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Das Rätsel des Opfers
Widerspenstiger Patient
Werner Zeller
Frank Zweig ist beruflich gewohnt, genau zu denken, das heißt zur Not - und an Not fehlt es nicht - auch gegen sich selbst: "Schreiben ist auf Dauer keine sinnvolle Beschäftigung für einen Physiker, weil sich die Präzision der Sprache nicht beliebig steigern läßt." Oder dieses, noch rücksichtsloser: "Geschriebenes ist die ungeeignetste aller Formen, sich mitzuteilen: man überlegt zu lange an jedem Wort herum, also man lügt."
Der dreißigjährige Berliner Physiker Ulrich Woelk ist es, der diesen Berufskollegen mit dem ebenso skeptischen wie wütenden Mut zur Sprache ausstattet, und er mag ihn, da sie manches Nachlesbare vereint, nicht ohne Not erfunden haben. Hat sich da einer, das Fach wechselnd, auf einen Essay, gar einen Verriß des Prosaschreibens eingelassen eine Laune naturwissenschaftlichen Scharfsinns, den Belletristen gerne mit schwadronierender Verachtung strafen? Nein, auf das Schreiben selbst, auf Literatur als physikalisches Experiment, spannend, genau und gefährlich zugleich.
Eine Wahnvorstellung oder auch ein Mord haben den jungen Frank Zweig in eine Klinik katapultiert, aus der geschlossenen Welt des Universitätslabors in die geschlossene Abteilung der Psychiatrie. Der behandelnde Arzt erhofft sich Aufschlüsse über den widerspenstigen Patienten, indem er ihn zum Schreiben bringt. Immerhin hat - soviel diagnosefördernde Phantasiespuren taten sich wenigsten auf - dieser ausgewachsen kranke Naturwissenschaftler als Kind "anderthalb Abenteuergeschichten" zu Papier gebracht, nach denen er nun auffallend eindringlich verlangt. Der Patient verzichtet ausnahmsweise auf den rationalen Dialog-Widerstand, schließlich sind die Sommermonate, Zwangsintermezzo eines in Zwängen verformten Lebens, leer und lang.
"Ich habe meinen Vater umgebracht. Die Idee kam im Suff. (Ich schwöre es.)", notiert er, um mit etwas anzufangen, und "Schreiben als Funktion des Gedächtnisses: Ich schreibe, um Nina noch einmal zu erleben."
So exakt, wie es die forschende und zugleich um Selbstbetrug buhlende Erinnerung und das vertrackte Instrument der Sprache zulassen, nähert sich Woelk diesen einander nie begegnenden Hauptpersonen eines beschädigten Lebens: Die liederliche Geliebte Nina und der eiskalte Vater sind Pole, deren gegensätzliches Kräftefeld den Erzähler fast zerreißt. Das ferngesteuerte Ich, dies bleibt die einzige Theorie ohne überzeugende Beweisführung in diesem Roman, muß Nina in höchster Not angreifen, um den Vater in sich auszulöschen und zu überwinden.
Ganz überwiegend widmen sich der junge Autor und sein meisterlich protokollierendes "alter ego" der Liebesgeschichte zu der Studentin und Schauspielerin aus der so wenig begreiflichen Welt der spielerischen Unordnung, der Sprunghaftigkeit und des Risikos - erst nicht mehr als eine Kneipenbekanntschaft des in seiner Diplomarbeit gefangenen Studenten, bald aber, nach der Karenzzeit des Glücks, ein amour fou, verrückt, weil verzweifelt, verrückt, weil vorbei.
Der Vater dagegen, der den Sohn hartgemacht hat für das Denken in Zahlen, Funktionen und Relationen, ist ein Gespenst aus Vergangenheitstiefen. Mit zwei Wörtern hat er einst dem stürmisch fabulierenden Kind das Urteil über die Abenteuergeschichten gesprochen: "Sprachliche Mängel." Ein Toter?
"Sprachliche Mängel": nicht, daß hier ein Roman ein fiktives Urteil dementieren wollte. Doch sind es die subversive Wucht lapidarer Sätze, passagenweise verkürzt bis ins Seelen-Exzerpt, die kühl kalkulierende Dramaturgie, virtuos in mehreren Ebenen rückblendend und erneut straffend zum gezielt spröden Vordergrund medizinaler Gesprächswelten, die bei diesem Buch des erst Dreißigjährigen verblüffen. Die sparsame Diktion und die gegen seine Figuren rücksichtslose Beobachtung grundieren ein Tableau, auf dem die Leidenschaft wie das Leiden sauber ausgeleuchtet sind: Die erste Begegnung mit Nina, das verfehlte Hinterherreisen nach Italien, der in Begleitung des Arztes unternommene Abstecher in die erinnerungsentzündende Wohnung das ist keine "Geschichte von der Stange", vor der sich der rebellierende Patient so fürchtet, keine "Biographie aus der psychotherapeutischen Massenproduktion". Hier hat einer die Vertreibung aus dem Paradies der Sprache, die ein (Gott-)Vater so unbarmherzig durchsetzte, schreibend rückgängig gemacht.